Die Sozialenzykliken der Kirche haben sich
immer wieder mit Themen wie Verständnis der Arbeit, Eigentum und Privatbesitz,
Lohnfragen und Menschenwürde auseinander gesetzt. Dabei ist eine deutliche
Entwicklung festzustellen. War die erste Sozialenzyklika von Leo XIII noch
eindeutig in Abgrenzung vom Sozialismus zu sehen, so wird in der Folge immer
klarer, dass sich die Kirche als Anwalt der Arbeitenden, vor allem aber als
Anwalt der Entrechteten und Minderprivilegierten verstand (vgl. das Schlagwort
von der „Option für die Armen“). Arbeit wird dabei zusehends nicht nur
unter dem Aspekt der Lebenssicherung verstanden, sondern vielmehr im
Zusammenhang mit der Selbstverwirklichung des Menschen und schließlich damit,
dass Arbeit letztlich Anteilnahme am Schöpfungswerk Gottes ist (theologische
Dimension). So wird in späteren
Enzykliken und Verlautbarungen von kirchlicher Seite immer mehr das Motto
„Arbeit vor Kapital“ betont (so auch im Sozialpapier der evangelischen und
katholischen Kirche in Deutschland unter dem Motto „Für eine Zukunft in
Solidarität und Gerechtigkeit“). Zudem entwickelte sich der Focus der päpstlichen
Verlautbarungen immer stärker auf eine globale Sichtweise und damit auf eine
internationale Verantwortung für Solidarität und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit
wird so nicht nur zum "Lebensprinzip der Gesellschaft", sondern zum (Über-)Lebensprinzip
der Welt.
Grundlage der Enzykliken war und ist immer das christliche Menschenbild, das den Menschen als „Abbild Gottes“ versteht und damit letztlich transzendent
begründet. Diese Gottebenbildlichkeit zeichnet den Menschen als Individuum, als
Person aus. Der Mensch ist zur Freiheit und zur Verantwortung berufen und hat den Auftrag, Gottes Schöpfung
fortzuführen (creatio continua), die Erde zu behüten und zu bebauen (so ist
wohl der Schöpfungsauftrag, sich die Erde "untertan" zu machen, zu verstehen).
Damit wird Arbeit nicht nur als Gelderwerb gesehen, sondern letztlich als
Anteil an der Mitgestaltung der Schöpfung.
1) Leo XIII
– Rerum novarum (RN) aus dem Jahre 1891
Rerum
novarum (übersetzt: neue Probleme) war die erste Sozialenzyklika der katholischen Kirche und als Reaktion
auf die wachsenden sozialen Missstände und Unruhen im 19. Jahrhundert zu
verstehen. Die Enzyklika (Lehrschreiben der Päpste) ist als Antwort auf die
zunehmende Begeisterung für den Kommunismus zu sehen, der mit einer heftigen
Kritik am Christentum und an der Religion insgesamt einherging. Leo XIII hat in
seiner Enzyklika wohl auch die Schriften von Bischof Ketteler aufgegriffen.
Wenngleich sich Leo XIII eindeutig vom Kommunismus abgrenzte, so sind doch
einige ganz wesentliche soziale Forderungen in Rerum novarum enthalten. Die
Enzyklika hatte seinerzeit übrigens für sehr viel Aufsehen gesorgt. Die
Forderungen aus der Enzyklika RN sollen in Grundzügen nachfolgend dargelegt werden.
Lohn: In RN wird ein menschenwürdiger, familiengerechter Lohn
(„Familienlohn“) gefordert, der die Mitarbeit der Mütter und Kinder
(Kinderarbeit war in der Zeit der Industriellen Revolution weit verbreitet) überflüssig
macht, ausreicht, um eine Familie ernähren zu können und dem Arbeiter die Möglichkeit zum Sparen
eröffnet, um damit selbst Eigentum zu schaffen. Die Forderung nach einem
Familienlohn war wohl die wichtigste und zentralste Forderung in RN.
Eigentum: Das Recht auf Eigentum wird – in Abgrenzung zum Kommunismus,
der im Privateigentum ein Grundübel sah – auf Grund des Naturrechts
gefordert. Dabei wird auch an Eigentum von Produktionsmittel gedacht, was
Grundlage für den Wirtschaftsliberalismus ist. Der Kommunismus Marx’scher Prägung
forderte dagegen die entschädigungslose Enteignung durch Staat und
Gesellschaft.
Selbsthilfe: Für die Industriebarbeiter wird das Recht auf
Selbsthilfeeinrichtungen und –organisationen (Koalitionsrecht) gefordert.
Diese Forderung (später in Gewerkschaften realisiert) beruht auf dem so
genannten Solidaritätsprinzip und wendet sich gegen den
Alleinvertretungsanspruch der Parteien und gegen die Übermacht der
Industriebosse.
Solidarität: Der Stärkere wird zur Hilfe für den Schwächeren nach Kräften
verpflichtet.
Staat: Vom Staat wird für die benachteiligten und gewiss auch
ausgebeuteten Industriearbeiter eine Schutz- und Fürsorgepflicht eingefordert
(vgl. Sozialversicherungswesen, das schon Bismarck eingeführt hat). Der Staat
wird also nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Dem Staat wird also die
Pflicht zur Intervention (Schutzgesetze, Sozialversicherungsmaßnahmen)
auferlegt.
Die Enzyklika QA zeichnet sich noch
einmal durch eine Ablehnung des Sozialismus aus, spricht aber auch von einer
erträumten „klassenfreien Gesellschaft“.
Klassen: Durch die
Wirtschaftsweise des Liberalismus und durch die weltweite Industrialisierung wurde die Gesellschaft zusehends in zwei Klassen gespalten. Wenigen Genießern
der Annehmlichkeiten stand die Masse der enterbten Industriearbeiter gegenüber.
Zudem haben schon die Spätwirkungen des Ersten Weltkriegs (1914 – 1918) und die ersten Weltwirtschaftskrisen (so etwa im Jahre 1929)
Massenarbeitslosigkeit und eine erneute umfassende Verelendung
heraufbeschworen (Deutschland hatte bei der Machtergreifung Hitlers im Januar
1933 sechs Millionen Arbeitslose). In der Enzyklika QA wird allerdings, entgegen
dem mittlerweile in der Sowjetunion politische Wirklichkeit gewordenen
Kommunismus, nicht die Vernichtung und Enteignung der besitzenden Klasse durch
gewaltsame Revolution, sondern der Weg der Evolution durch Mitbestimmung und
Gewinnbeteiligung der Arbeitnehmer an den Erträgen der Unternehmen gefordert.
Eigentum: Neben dem Recht auf Eigentum (so in RN 1891 gefordert) wird nun
auch auf die Verpflichtung des Eigentums verwiesen. Eigentum und der Besitz
haben nicht nur eine Individual-, sondern vor allem auch eine Sozialnatur
(„Eigentum verpflichtet!“; diese Forderung wurde im GG vom 23. Mai 1949 im
Artikel 12, Absatz 2 wörtlich umgesetzt: „Eigentum verpflichtet. Sein
Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“).
Arbeit: Arbeit ist dem Kapital gleichwertig. Später (spätestens in
Laborem exercens aus dem Jahre 1991) wird ein deutlicher "Primat" der
Arbeit vor dem Kapital formuliert.
Lohn: Es wird nicht nur ein gerechter Tariflohn gefordert, sondern das
Recht des Arbeiters auf Beteiligung am Gewinn und auf Mitbestimmung in
Tariffragen und Gestaltung des Arbeitslebens. In der Lohnfrage ist also wiederum
eine deutliche Weiterentwicklung im Hinblick auf Mitbestimmungs- und
Beteiligungsansprüche der Arbeiter gegenüber der Enzyklika RN festzustellen.
Subsidiarität: Die Subsidiarität („Hilfe zur Selbsthilfe“) ist das
grundlegende Ordnungsprinzip zwischen den Menschen, der Gesellschaft und dem
Staat. Hilfe soll nur da, wo nötig, erfolgen. Die Selbstständigkeit des
Einzelnen und der Gruppen soll so weit wie möglich gewahrt bleiben. Dieses
Subsidiaritätsprinzip gewährt dem Einzelnen und den Gruppen weitest gehende
Freiheit und Selbstständigkeit.
Vermutlich hat bei der Arbeit an der Enzyklika QA auch Oswald von Nell-Breuning,
SJ (=Societas Jesu, also Jesuit), der später als "Nestor der katholischen
Soziallehre" bezeichnete Jesuit mitgewirkt.
3) Johannes
XXIII – Mater et magistra (MM), 70 Jahre nach RN, also 1961
und Pacem in terris (PT), aus dem Jahre 1963
Menschenwürde:
Im Mittelpunkt der Enzyklika Mater et magistra (übersetzt: Mutter und Lehrerin)
steht die Einforderung der
Menschenwürde. Das oberste Prinzip der Katholischen Soziallehre, dass nämlich
– gemäß der christlichen Anthropologie – der Mensch Träger, Schöpfer und
Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein muss, wird für alle Menschen
gefordert. Die unantastbare Würde
der menschlichen Person wird von Johannes XXIII betont und muss gegen einen rücksichtslosen
Individualismus der „Ellbogengesellschaft“ und gegen den revolutionären
Kollektivismus (Kollektiv heißt Gemeineigentum) der Versorgungsgesellschaft
(Staat sorgt für alles) geschützt werden.
Frieden: Angesichts der latenten Gefahr militärischer
Auseinandersetzungen im so genannten „Kalten Krieg“ und nach der Erfahrung
der „Kuba-Krise“, die beinahe einen Atomkrieg ausgelöst hätte (1962),
betont Johannes XXIII, dass Friede nicht nur auf dem damals gültigen
„Gesetz“ des „Gleichgewichts des Schreckens“ bzw. der militärischen Rüstung,
beruht, sondern dann, wenn Vertrauen, Wahrheit, Gerechtigkeit und tätige
Solidarität Bestand haben. Der Rüstungswettlauf wird gar als „soziale Sünde“
diffamiert. Das Verbot von Atomwaffen wird gefordert.
Mit diesen Äußerungen zeigt Johannes XXIII große Weitsicht. Bis seine
Forderungen aber wenigstens ansatzweise umgesetzt werden, sollten noch fast drei
Jahrzehnte vergehen (vgl. Niedergang der Sowjetunion Ende der 80-er Jahre,
Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990). Das Ende des „Kalten
Krieges“ kam mit dem Verschwinden des staatstragenden Kommunismus im letzten
Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.
4) II.
Vatikanisches Konzil – Gaudium et spes (GS), aus dem Jahre 1965
Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes ist keine Enzyklika, also kein päpstliches Lehrschreiben, sondern ein Dokument,
das von der Versammlung der Bischöfe auf dem von Papst Johannes XXIII
einberufenen und von Papst Paul VI zu Ende geführten II. Vatikanischen Konzil
(1963 bis 1965) erlassen wurde. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes
(„Freude und Hoffnung“, so die ersten Worte des Dokuments) ist wohl eines
der bedeutendsten Dokumente des II. Vaticanums.
Die Menschenwürde (Mensch als
Person und Abbild Gottes) steht im Mittelpunkt der Verlautbarung. Die Ordnung
der Dinge (und damit auch der Wirtschaft) muss demnach der Ordnung der Personen
dienstbar gemacht werden. Die Subsidiarität gewinnt angesichts der
Konzentrationsentwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft zusehends Bedeutung
und soll die Stärkung individueller Möglichkeiten und Rechte bewirken.
Gleichzeitig wird der Blick auf die Gestaltung der weltweiten Beziehungen
gelenkt. Die Anerkennung und Würde der so genannten „Drittwelt-Länder“
wird eingefordert. Sie dürfen nicht von einer weltweiten wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung
abgekoppelt werden.
5) Paul VI
– Populorum progressio (PP), au dem Jahre 1967
Den Gedanken der weltweiten Verflechtung
und Verantwortung greift Paul VI in seiner Enzyklika Populorum progressio
(Fortschritt der Völker) aus dem Jahre 1967 erneut auf. Für ihn ist „Entwicklung
der neue Name für Friede“. Damit kommt eine neue Sichtweise in die
Diskussion um die soziale Gerechtigkeit.
Entwicklung: Fortschritt und
Entwicklung im menschlichen und sozialen Sinne ist der neue Name für Friede.
Nur wenn Fortschritt und Entwicklung weltweit greifen, ist der drohende „Nord-Süd-Konflikt“
abzuwenden und der Friede zu sichern (diese Forderung ist gerade in unserer Zeit
von allergrößter Dringlichkeit).
Weltfonds: Es wird gefordert, dass die reicheren Länder aus ihren Erträgen
einen angemessenen Teil zur Unterstützung der ärmeren Länder nach dem Prinzip
der Solidarität und Subsidiarität einzahlen.
Eigentum: Es gibt für niemanden ein unbedingtes und unumschränktes
Recht auf Eigentum. Niemand ist befugt, seinen Überfluss ausschließlich sich
selbst vorzubehalten, wo anderen das Notwendige zum Überleben fehlt. "Das
Eigentumsrecht darf (...) niemals zum Schaden des Gemeinwohls genutzt
werden." In PP rechtfertigt Papst Paul VI unter Umständen gar die
staatliche Sozialisierung (Enteignung) des Eigentums mit der Sozialpflichtigkeit
des Eigentums. Zudem heißt es dort, "dass egoistische Spekulationen keinen
Platz haben dürfen".
6) Paul VI
– Octogesimo adveniens (OA), 80 Jahre nach RN, also 1971 und Ansprache vor der
IAO 1969 in Genf
In OA und seiner Ansprache in Genf wurde
Papst Paul VI deutlich.
Ideologien: Die Ideologien des
Sozialismus und Liberalismus versklaven den Menschen. So deutlich hat sich die
Kirche wohl kaum einmal von den Antipoden Sozialismus und (Wirtschafts-)Liberalismus
abgegrenzt und den so genannten „dritten Weg“ der Katholischen Soziallehre
vorgestellt.
Mitentscheidung: Die Übernahme von Mitentscheidung und Mitverantwortung
sind eine elementare Forderung der Natur des Menschen und zugleich eine Bestätigung
seiner Freiheit und der Weg zu seiner persönlichen Entfaltung.
Arbeit: Die Voraussetzungen für Frieden in der Welt sind soziale
Gerechtigkeit und Arbeit für alle.
7) Johannes
Paul II – Laborem exercens (LE), 90 Jahre nach RN, also 1981
Arbeit:
Es gibt keine höheren und niederen Arbeiten. Alle Arbeit ist gleichwertig.
Neben den drei bekannten Dimensionen der Arbeit, der individuellen, der
psychologischen und sozialen, wird auch auf die theologische Dimension
hingewiesen. Jede Arbeit des Menschen ist dabei eine Mitarbeit an der Vollendung
des Schöpfungswerkes Gottes. Arbeit ist dann dem Kapital nicht gleichwertig,
sondern hat immer eindeutig Vorrang, weil Kapital immer erst eine Frucht der
Arbeit ist (Arbeit vor Kapital!!). Arbeit ist nie Ware (wie das Kapital).
Subjekt der Arbeit ist immer der Mensch, die Arbeit selbst ist als Tun des
Menschen immer Objekt. Johannes Paul II spricht vom „Primat der Arbeit über
das Kapital und das Eigentum“.
Eigentum: Der Begriff des Eigentums wird erweitert durch das Recht des
Arbeitenden auf Miteigentum an Produktionsmitteln, weitest gehende Mitbestimmung
am Ablauf des Produktionsprozesses und Anrecht auf Gewinnbeteiligung.
8) Johannes
Paul II – Centesimus annus (CA), 100 Jahre nach RN, also 1991
Nach dem Zusammenbruch des Marxismus und
Kommunismus in Europa sah sich Johannes Paul II zu einer weiteren
Sozialenzyklika veranlasst, mit der er auf die neu entstandene Situation
antworten wollte.
Kritik am Kapitalismus und
Konsumismus: Ziel der Enzyklika CA war weniger ein Abgesang auf den
Kommunismus als vielmehr eine kritische Distanz zu Kapitalismus und Konsumismus.
Dennoch wird der Zusammenbruch des Kommunismus als Konsequenz der Untauglichkeit
eines kollektivistischen Systems, in dem eine permanente Verletzung der Würde
der menschlichen Person herrschte, und als Folge der durch den Atheismus
bestimmten geistigen Leere und Orientierungslosigkeit analysiert.
Wenngleich eindeutig das Wirtschaftssystem des Westens als das bessere
verstanden wird, hat diese Form des Kapitalismus nur so lange ihre Berechtigung,
so lange sich der Kapitalismus in den Dienst an der menschlichen Freiheit stellt
und ethische und religiöse Dimensionen anerkannt bleiben. Die Marktwirtschaft
muss auf den Menschen hingeordnet sein und nicht umgekehrt.
Johannes Paul II sieht die Gefahr der liberalen Marktwirtschaft, dass der Mensch
in dieser seine Freiheit in einer Weise benutzt, in der er sich nur noch selbst
kennt, nicht aber seinen Nächsten und noch weniger Gott beachtet. Der Mensch,
so Johannes Paul II in seiner Enzyklika, sei dadurch bedroht, dass er sich durch
den Konsumismus seiner selbst entfremde und seine Hinordnung auf den Nächsten und auf
Gott verlieren könnte.
Abschließend kann festgestellt werden, dass sich die Kirche über die vorsichtige Beachtung der sozialen Frage, die viel zu spät erst Ende des 19. Jahrhunderts angegangen wurde, immer deutlicher auf die Seite der Arbeitenden gestellt hat und in den letzten Jahrzehnten verstärkt den Blick auf die internationale Verflechtung und auf die Entwicklungsmöglichkeiten der so genannten Dritten Welt (der Begriff der Dritten Welt meint die Entwicklungsländer, die nach dem „Westen“ als der Erste Welt, dem kommunistischen Osten als der Zweiten Welt quasi den Rest der Welt bedeutet; mittlerweile wird meistens von der Verantwortung für die "Eine Welt" gesprochen) gelegt hat.
Quellen:
Auszüge aus den aufgeführten Dokumenten
Überblick über die Geschichte Kath. Sozialenzykliken, Verfasser unbekannt
Stand: 30. März
2005
Günter Brutscher